Eine Frau steht im Literaturhotel und liest
Ziemlich erlesen

Lesen und lesen lassen

Unser literarisches Engagement geht nun ins zehnte Jahr. „Literatur am Kirchturm“ nennt sich ein ehrgeiziges Juffing-Projekt, das Herz und Hirn in Anspruch nimmt und besondere Kräfte ebenso stark bündelt wie freisetzt.

Neben vielen anderen Bausteinen ist das Aufenthaltsstipendium ein nicht unwesentlicher Baustein unseres „Literatur am Kirchturm“-Programms. Dadurch können Schriftstellerinnen und Schriftsteller ihre kreativen Tätigkeiten ohne Einsatz eigener finanzieller Mittel bei uns im Literaturhotel in Hinterthiersee ausüben.

Die erste Preisträgerin dieses „Writer-in-residence“- Programms war Carolina Schutti, die im September 2015 für vierzehn Tage bei uns wohnte und an Ihren neuem Buch ungestört arbeiten konnte.

Wir haben die Zeit mit Carolina Schutti intensiv erlebt, ihre Achtsamkeit, ihr stilles Beobachten, ihren siebten Sinn, ihr Frau-Sein und noch mehr ihr Mutter-Sein. Diszipliniert wie sie nun bald ist, hat sie sich im Juffing „die Seele vom Leib geschrieben“, und wir können es kaum erwarten, bis ihr neues Buch endlich erscheinen wird. Wir freuen uns sehr darauf und sind ganz sicher, dass sie den zweiten Stipendiaten mit viel Bedacht und sicherer Hand ausgesucht hat. Dabei war von Anfang an mit den Autoren abgemacht, dass wir den ersten Stipendiaten aussuchen und danach die einzelnen Preisträger selbst den Nachfolger bestimmen. Carolina Schutti hat sich für einen waschechten Tiroler entschieden, der bereits im Jahr 2014 bei uns gelesen hat und dessen Lyrik uns damals so schwer beeindruckt hat.

Carolina Schutti lebt mit ihrem Sohn und ihrem Mann in Innsbruck und mailt uns ihre Juffing-Eindrücke auf der Zugfahrt nach Hause:

Ein literarischer Rückblick von Carolina Schutti

„Den Fuchs werde ich nicht los, seine Augen nicht, sein Fell, das ganz weiß aussah im Scheinwerferlicht. Und die Geschichte werde ich nicht los, die am Fuchs hängt, an der Straßenkehre, am Beifahrersitz, auf dem ich dich zu sehen glaubte. Du hast dich in mir eingenistet, für immer, habe ich damals geschrieben, und diese Geschichte war ganz klein, ein Gerüst nur, mehr nicht. Ich muss den Faden wieder aufnehmen, ich werde am Anfang beginnen und – Dass meine Mutter eine Mörderin sei, hätte ich sagen können. Aber so einfach war es nicht.

Dass ich nicht daran glauben konnte, eine Liebe könne wachsen, wenn man einen künstlichen Nullpunkt erschaffe, als hätte es vor diesem kein Leben gegeben. Das hätte ich sagen können.

Eine Geschichte über Macht- und Ohnmachtsverhältnisse hätte dies werden können, nur, dass ich nicht länger eine Ohnmächtige sein wollte, eine Mächtige aber auch nicht. Ein Zwitterwesen mit Flügeln vielleicht, das sich nicht festlegen musste auf eine Art des Seins.

Wir möchten an rote Fäden glauben, weil sie den Weg vorgeben. Weil man sich an ihnen festhalten kann, weil man glaubt, dadurch nicht verloren gehen zu können. Doch rote Fäden sind kein Handlauf und mir stellt sich die Frage, ob man nicht mehr zu sehen bekommt, wenn man sie nicht ergreift und sich stattdessen auf ein Abenteuer einlässt.“

Die Schriftstellerin Carolina Schutti bei ihrer Lesung

MIT DIESEN ZEILEN BIN ICH GEKOMMEN UND MIT SO VIEL MEHR GEGANGEN.

Die Möglichkeit, in den zwei Septemberwochen einen ganz neuen Rhythmus zu finden und dem Schreiben – losgelöst vom Alltag – den Platz zukommen zu lassen, den es verdient, war ein Geschenk, das genau zur rechten Zeit kam. Lassen sie dich denn in Ruhe? Mehr als einmal hörte ich diesen Satz, wenn ich von meinem Schreibaufenthalt erzählte, diese Frage kam vor allen anderen, wohl deshalb, weil Schreiben und Ruhe für viele unbedingt zusammengehören (auch für mich), das Leben von Autorinnen und Autoren außerhalb des eigentlichen Schreibens hingegen oft von Unruhe geprägt ist, vor allem, wenn man sich als solche/als solcher nach außen präsentieren muss. 

Von Müssen war hier jedoch nie die Rede, im Gegenteil: Dieses neue Projekt der Familie Juffinger-Konzett ist tatsächlich eine einzige Einladung, bestimmt von ehrlicher Freude seitens der Gastgeber, einer schönen Bücherumgebung und so vielen Kleinigkeiten, die von Achtsamkeit zeugen, von Aufmerksamkeit und Wertschätzung gegenüber Buch und Mensch.

Ein Dürfen also – so etwas ist nicht leicht zu finden und umso glücklicher darf ich mich schätzen, die erste Stipendiatin des Writer-in-Residence-Programms gewesen zu sein, das sich hoffentlich schon bald etablieren wird als eines, auf das man sich wirklich, aus ganzem Herzen, freuen kann ...

Bild oben:
Carolina Schutti – erster Gast des
Writer-in-Residence-Programms

Lesen ist ein großes Wunder, meinte Marie von Ebner-Eschenbach.

Drei Personen mit Büchern in einer Bibliothek des Juffing & Spa Hotels

Der Buchmarkt steckt in einer Krise. Strukturelle Veränderungen wie die Digitalisierung erschüttern Verlage und Buchhandlungen und feuern den Sinkflug des Umsatzes mit gedruckten Büchern weiter an. Nun könnte man einwenden, dass digitale Bücher den Abwärtstrend aufhalten, die Zahlen zeigen aber ein anderes Bild. Nur noch jeder Fünfte liest, glaubt man den aktuellen Statistiken. Bücher liegen im Ranking der Freizeitbeschäftigungen auf einem „guten vierzehnten Platz“, weit abgeschlagen hinter Kuchen essen und Ausschlafen. Und dann machen wir im Juffing: ausgerechnet Literatur!

Seit zehn Jahren haben wir uns der Literatur verschrieben und sind das Tiroler Domizil für Autoren aus dem In- und Ausland.
Ein Portrait von Robert Menasse

Gemeinsam mit unseren Gästen veranstalten wir Lesungen, die mehrmals im Jahr stattfinden. Im Anschluss an die Lesung wird diskutiert und philosophiert. Ein ganz großes Erlebnis war u. a. die Lesung mit Robert Menasse, einer der bekanntesten zeitgenössischen Schriftsteller Österreichs und sicherlich einer mit den meisten Auszeichnungen.

Bild:
Robert Menasse privat

Er hat unter anderem den Heinrich-Mann-Preis, den Max Frisch-Preis und den französischen Ordre des Arts et des Lettres erhalten. Im Oktober 2017 wurde er mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Sein Europaroman „Die Hauptstadt“ steht natürlich in unserer Bibliothek und wir freuen uns sehr, dass Robert Menasse bei uns zu Gast war.

Es gibt ein jährliches Literaturstipendium und regen Kontakt zu den Autoren und Literaturagenten, die mittlerweile auch privat bei uns ihre Ferien verbringen. Unsere Bibliothek wird gehegt und gepflegt und halbjährlich mit den aktuellsten Neuerscheinungen bestückt. Bücher sind einfach unsere Welt, und das Verweilen und Abtauchen in die Welt der Bücher gehört für uns zu Tiefenentspannung und Wohlgefühl unbedingt dazu. Dem intensiven Gefühl, stundenlang umgeben von Büchern in diesen zu stöbern und zu blättern, kann kein Online-Shop gerecht werden und unsere Spa-Bibliothek gehört zu den gemütlichsten Verweilorten im ganzen Hotel. Es gibt keinen Kaufzwang, man schmökert unbekümmert, um am Ende mit einem völlig anderen Buch, als man eigentlich gesucht hatte, ins Zimmer zu schlendern.

Hinterthiersee aus der Sicht von bekannten Autoren

Artikel von Hans Augustin, Literaturstipendiat des Jahres 2021

Hinter.
Thier.
See.

Ein Stück Land im Anschluß an die Welt; oder vielleicht nur ein paar Schritte außerhalb des Zaunes des gegenwärtigen, weltweiten politischen Treibens, das wenig Erfreuliches anzubieten hat. Es ist November, der Winter hat sich schon bemerkbar gemacht und Schnee auf die Schattenseite hingeschneuzt, dennoch haben die Kühe auf den Wiesen keine Eile, als wäre die Jahreszeit nur eine Laune der Natur, des Klimas. 

Die Schweigsamkeit ist mit Händen zu greifen; und läßt man sie erst einmal auf der Hand schmelzen, wird das Tempo des Lebens deutlich, und stellt die Frage wozu das alles? Der Ort bleibt in jedem Fall die Antwort schuldig; Fehler ist das keiner. 

Im Umkreis der langgezogenen Ansiedlung, quasi als Mittelpunkt, die Kirche, in gewisser Weise dem Heute gegenüber sprachlos geworden, nicht immer unberührt von Auseinandersetzungen und dennoch ein unmerklich sich zurückziehendes Zuhause für von im großen und ganzen gegenwartsfromme Menschen. Und zeigt, dem Hl. Nikolaus von Myra geweiht, der der Patron der Kirche ist, wenigstens noch architektonische Präsenz. Stuckverziert, und den Heiligen mit den drei Kugeln, verzückt sich seiner Apotheose erinnernd.

Das Sägewerk, unweit, schichtet geschälte Baumstämme auf, für spätere Dach- und Bodenbretter oder Einrichtungen; der öffentliche Verkehr beschränkt sich auf wenige Frequenzen in die Bezirkshauptstadt, hin und retour, der Supermarkt hat schon vor längerer Zeit die Regale leergeräumt und die Nahversorgung eingestellt. Wahrscheinlich aus mangelndem Umsatz, aus der fehlenden Perspektive für einen Nachfolger. Es lohnt sich wahrscheinlich nicht mehr, vernimmt ein Hotelgast eines gut besuchten und mit hoher Qualität geführten Spa-Hotels in unmittelbarer Nachbarschaft aus dem Gespräch zweier älterer Damen. Und dieses Bedauern spiegelt sich in den leeren Auslagen.

Die Volksschule, als Refugium für ein altbewährtes, reformpädagogisches Konzept, das der Unmittelbarkeit der Vermittlung von Lebenswissen den Vorzug gibt, beherbergt noch die von vielen gewünschte Kindheit und Unbeschwertheit; ungeachtet der Entwicklung digitaler Kommunikationswerkzeuge. Natürlich wissen die Kinder den Umgang mit Smart-phone aber auch wie man Scherenschnitte macht, mit Wasserfarben umgeht, das Kleine Einmaleins lernt, Adventkränze flicht und woran man den Unterschied zwischen Ostern und Weihnachten erkennt.  

Der Ort weiß nicht wie lange das noch möglich sein wird, und der Besucher hofft, daß diese Form der Schule bleibt und die Regierung des Landes, insbesondere der Landesvater, setzt viel daran, auch Einrichtungen wie Freiwillige Feuerwehr, Musikkapelle und Schützen am Leben zu erhalten. Was zunehmend schwieriger wird. Aus gesellschaftlicher Ermüdung von Tradition und Unveränderbarkeit des Alltags.

Die Menschen gehen ihrer Arbeit nach und haben vielleicht aufgehört, hier die Tage zu zählen, vielmehr tun sie es an den Standorten ihrer beruflichen Tätigkeit; mit mehr oder weniger Herz oder Kalkül; man feiert die Geburtstage, die Hochzeiten, die Begräbnisse, die Unglücke, die Besonderheiten des Lebens und das andere, das sich irgendwie ereignet, vermeintlich ohne dem Zutun der Welt. Das letztlich das Überraschende des Daseins birgt, wie ein Paket eines Online-Kaufhauses, das sich auf Moden in Kleidung und Accessoires für Ältere und Mollige spezialisiert hat und irrtümlich einen Astronautenanzug schickt. 

Paketdienste verdienen in jedem Fall.

Das Geräusch durchfahrender Autos weckt für ein paar Augenblicke die Aufmerksamkeit und die Sehnsucht nach anderswohin, aber wo ist das und wie kommt man dorthin und ist es dort so wie hier? Die Vergleichbarkeit ist unangebracht und schwer durchzuführen, kommt einer Mißachtung oder Verachtung des Heimischen gleich, auch wenn dennoch nicht wenige Ortsansäßige, ihren Sommer am Meer verbringen. 

Es ist die Weite, die verlockt, der optische Ausgleich zu den Bergen ringsum, die man nicht vermissen möchte, und sich mit dem ungebrochenen Horizont, weit draußen, wo Himmel und Meer sich ineinander verschränken, nicht messen kann.

Abgesehen von den Schaumkronen, die auch eine meterdicke Schneedecke nicht ersetzen kann.

Wie an allen Endstationen sind nur die ausgedruckten Fahrpläne zu lesen. Ein Kleinbus startet den Motor und fährt weg und man hat das Gefühl, als wäre es das letzte Schiff von der Insel für die nächsten Jahre. Nur das Gebimmel einer Kuhglocke läßt die Hoffnung aufkommen, daß hier seit langem und weiterhin Menschen wohnen.

Unter Umständen könnte man sogar die Uhren abschaffen, die nach wie vor pünktlich sind und die überschaubare Zahl an Fahrgästen hat keine Eile; man muß damit rechnen, daß sich diese öffentlichen Transportmittel einmal nicht mehr rechnen.

Hinter Thiersee gibt es ein Paradies, das so nicht im Reisekatalog steht; die Menschen dort tragen bunte Hemden, laufen tagsüber von Hügel zu Hügel, 

dösen auf Badeliegen ihre unbedeutenden Unpäßlichkeiten hinweg, knabbern an kleinen Sorgen bzgl. Form, Farbe und Falten, wechseln in den Schlaf bis zur vollendeten Schönheit, verborgen hinter Zeitungs- und Gesundheitsmagazinformaten der Welt. 

Man gewöhnt sich an diese Landschaft, genießt die Kunst einer außergewöhnlichen Küche und die Auslese besonderer Weine, dezent bedient von ausnehmend charmanten Damen und Herrn, deren schwebendes Lächeln jede kleinste Kritik im Kern zerfließen läßt. 

Und geht im Anschluß für einen exzellenten Mix an der Bar vor Anker, versprudelt mit dem small talk der Damen, links und rechts.

Hinter Thiersee hat das Glück noch einen Namen.

Hans Augustin
im November 2021

Text vom Heinrich Steinfest über den Hinterthierseer Schattberg

 Aus: Gebrauchsanweisung für Österreich · Piper Verlag GmbH · Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe 2017

(...) Ich sitze im Freien – besser gesagt: ich schwebe schaukelnd – in so einem nach oben geschlossenen Korbstuhl, der an einem Seil hängt und den ein freistehendes, kleines Gerüst trägt. Ein Hängesessel. Und muß dabei erneut an Elfriede Jelinek denken, an dieses berühmte Fotoporträt von Martin Vukovitz, wie sie da in so einer offenen, hängenden Sitzmuschel aus Plexiglas residiert, eine Dichterin aus Edelstahl, sehr elegant, mit einer Verletzlichkeit, durch die keine einzige Kugel dringt. Ein physikalisches Phänomen, das all jene ärgert, die die Physik nicht im Griff haben, die Physik der Worte allen voran.

Also, bei mir ist es kein durchsichtiges Plexiglas, sondern ein luftiges Geflecht, mein Hintern gut bepolstert. Zwanzig Zentimeter über dem Erdboden, der an dieser Stelle eine Terrasse mit Swimmingpool ist, schaue ich auf den gegenüberliegenden Hang und auf die breite Schneise, die den Wald spaltet. Der Abhang ist an einigen Stellen leicht, an anderen stark gewellt, ein grünes Band, gesäumt von Nadelbäumen, stellenweise sieht man das Ocker des Untergrunds durchschimmern. Am rechten Rand stehen die Pfeiler eines Schleppliftes. Ganz oben verjüngt sich der Streifen und endet an einer vom Wald fast zur Gänze eingeschlossenen Felswand. Eine Piste also, von der Länge her das, was man einen Hang für Anfänger nennt, so wie man den Lift für einen Babylift halten könnte. Doch man muß sich erst bewußt werden, wie steil die Strecke eigentlich ist, wie unregelmäßig die Bodenführung. Das mag ja eine kurze Abfahrt sein, aber mitnichten eine leichte. Und ich erkenne jetzt, im Sommer, fern des ersten Schnees, wie absolut perfekt diese Piste ist. Zum perfekten Hotel der perfekte Hang. Nicht der Appendix eines Schigebiets, welches sich mit anderen Schigebieten zu einer weißen Krake verbindet, sondern ein Solitär (und gerne lasse ich mich vom Hotelchef darüber aufklären, wie herrlich das im Winter ist, für wenig Geld vis-à-vis des Hotels hinauf- und hinunterzufahren, ohne sich jemals anstellen zu müssen, und wie groß das Vergnügen, die Feinheiten und Eigenheiten dieses Hangs studieren zu können, ohne daß einem ständig jemand in die Quere kommt – in der Tat erscheint modernes Schifahren anderswo als die Kunst des Ausweichens. Nicht so hier).

Ich denke mir, daß man einen Hang, den man winters sich vornehmen möchte, sommers studieren sollte. – Dieser Hang ist ein Traum. Je länger ich ihn betrachte, um so mehr erkenne ich seine Eleganz. Die Eleganz einer Dame, die sich auszieht und deren aus dem Ausziehen resultierende Nacktheit ihrerseits etwas Angezogenes hat. Als sei eben auch Nacktheit ein Kleid. Ein Samtkleid. Ein grünes Samtkleid. Später im Jahr dann ein weißes.

Als am nächsten Morgen die milde Temperatur der Vortage zehn Grad eingebüßt hat, Nebelschwaden die Täler verkleben und dicke, volle Wolken eng den Himmel bestellen und nur selten ein paar Sonnenstrahlen passieren lassen, da mache ich mich noch vor dem Frühstück auf den Weg, um den »perfekten Hang« nach oben zu marschieren.

Wichtigste Erkenntnis im Bereich Verstand: Eine Strecke, die man auf den zweiten Blick als steil erkennt, erweist sich beim Aufstieg als noch weit steiler. Wichtigste Erkenntnis im Bereich Empfindung: wie sehr der Morgentau einer Wiese imstande ist, durch Schuhwerk und Beinkleid zu dringen.

Jedenfalls rutsche ich einige Male ab, bewältige die schwierigste Stelle mittels einiger Schlenker und erreiche naßgeschwitzt die oberste Stütze des Schlepplifts, dort, wo jene Felswand hochragt, die, aus der Nähe betrachtet, etwas Abgeschlagenes besitzt. Eine Übersichtskarte verrät mir den Namen des Lifts, Haltjochlift, und daß es sich bei der Abfahrt um eine schwarze handelt, für »Könner«, wie es heißt, und weiter: eine »homologierte FIS-Strecke«. Wie hübsch das klingt, auch wenn man nicht weiß, was homologiert genau bedeutet, es sich bloß denken kann.

Es tut mir jedenfalls gut, daß ich, dort oben stehend, bestätigt bekomme, eine Könnerstrecke auserkoren zu haben. Und jetzt schon versuche, mir die Topografie einzuprägen, den Körper der »Dame« auswendig zu lernen und mir zu überlegen, an welchen Stellen dieser Piste das Verderben droht. Gleichzeitig hat die pure Möglichkeit eines Sturzes auch seinen Reiz, gerade jetzt, noch ohne Schi und Schnee, das Straucheln und Scheitern als Phantasie erlebend. Es ist doch eine Wahrheit, daß der Gang in die Berge, als Wanderer wie als Schifahrer, auch dort, wo alles geregelt erscheint, nicht zuletzt unser Bedürfnis befriedigt, Ehrfurcht zu empfinden. Vor der Natur Angst zu haben, vor Wetterwechseln und teuflischen Stellen, vor dem Furchterregenden, das ständig aus dem Lieblichen hervorbrechen könnte. Der österreichische Tourismus lebt von der Angst, die die Menschen, gerade die Städter, vor den Bergen haben, die ihnen so lieb sind.

Als ich nun versuche, die seitlich wegführende blaue »Abfahrt für Anfänger«, die an dieser Stelle noch eine Einheit bildet mit der roten »Abfahrt für Geübte«, spazierend zu erleben, nehme ich irrtümlich den darüber gelegenen Wanderweg, der mich durch einen Zauberwald führt und schließlich auf eine Rodelbahn entläßt – endlich meinen Irrtum erkennend, weil diese Strecke für eine Schiabfahrt selbst für Geübte dann doch ein wenig zu kurvig wäre. Jemand sagte mir einmal, Rodeln sei die Großmutter des Wintersports. Eine Großmutter mit festem Gebiß.

Ich schwöre, ich komme wieder, wenn es Winter ist (und muß erwähnen, daß neben dem zur Felswand hochführenden Tellerlift es im Talbereich auch einen Seillift als Babylift gibt, der meinem ersten Eindruck doch ein wenig Wahrheit verleiht). Freilich befindet sich in vernünftiger Entfernung etwas, was man »Topschneegebiete« nennt, vor allem die sogenannte SkiWelt Wilder Kaiser mit neunzig Bahnen und Liften, 1400 Schneekanonen, 280 Kilometer Pisten, möglicherweise mit einer direkten Verbindung zu den Schigebieten auf Mond und Mars. Man kann sich aber auch für den Zahmen Kaiser entscheiden oder das bayrische Sudelfeld.

Wo auch immer Sie in Österreich Wintersport treiben, es gilt in Abwandlung einer Inschrift, die man auf einem Schiffahrtshaus zu Bremen lesen kann: »Schifahren ist nötig, leben nicht.«

Es soll noch gesagt werden, daß man im Juffing first class essen kann, sich aber auch ohne Smoking oder Abendkleid und ohne mit irgendeinem Habsburger oder Graf Bobby verwandt zu sein nicht wie ein Neandertaler vorkommen muß, der auf dem Weg durch Österreich ein Gourmetmagazin mit einer Landkarte verwechselt hat. Die Küche des Juffing, so fein, so exquisit, scheint immer auch im Sinn zu haben, daß der Gast bei all diesen Köstlichkeiten nicht nur ästhetisch richtig satt wird. Das ist alles andere als selbstverständlich in Zeiten luxuriöser Schaumstoff-Kulinarik. Das Beste sind übrigens die Suppen, frei von Schnickschnack, ganz darauf konzentriert, gut gewürzt zu sein. Die Suppen in den meisten Nobelrestaurants sind vor allem eines: Farbe. Suppen aus dem Aquarellkasten. Auch gelingt es dem Küchen- und Servicepersonal, tadellos terminierte Pausen zwischen die fünf Gänge zu fügen. Nicht zu lang, nicht zu kurz. Ein Uhrwerk. Als wir das Hotel verlassen, um nach Salzburg aufzubrechen, sagt meine Partnerin zu mir: »Ich möchte nie wieder in ein anderes Hotel.«

Eintrag in das Gästebuch mit einer Danksagung und einem aufgezeichnetem Nilpferd
Andrea Labonte schreibt in Ihrem wellness-heaven-Blog über das Juffing:

Während Saunieren das Immunsystem stärkt, war schon Voltaire überzeugt, dass Lesen die Seele stärkt. Doch nicht nur Voltaire, immer mehr Hoteliers sind ebenfalls der Meinung, dass zu einem ganzheitlichen Wellness-Konzept auch Zerstreuung für den Geist gehört. Daher bieten sie neben Dampfbädern und Co neuerdings auch Bibliotheken, Lesungen und sogar spezielle Spa-Anwendungen für Literatur-Fans an:

Eines der ersten Spa-Hotels in Österreich, das sich auf lesebegeisterte Gäste einstellte, war das Juffing Hotel & Spa, nur einen Katzensprung vom Tiroler Thiersee entfernt. Neben einer Bibliothek im Spa und einer weiteren in der Kaminlounge residieren die Gäste des Erwachsenen-Hotels in Lese-Zimmern, die verschiedenen Autoren gewidmet sind. Und sollten Wanderungen, Wellness-Anwendungen oder Ausflüge z.B. ins nahegelegene Kufstein verhindern, dass das Lieblingsbuch während des Urlaubs zu Ende gelesen wird, darf man es sogar mit nach Hause nehmen – vorausgesetzt man schickt es nach der Lektüre zurück. Dass man sich in einem Wellness- und Literaturhotel befindet, merkt man außerdem an den regelmäßig stattfindenden Lesungen und am Hotel-Inventar. Selbst die Teppiche und Flurwände sind mit Lyrik und Prosa versehen. Lesefaule werden in der Faulenzer-Bibliothek mit Hörbüchern versorgt.